URBAN-CLIMATE


Viernheimer werden mit dem Klimawandel warm

Das Klimaprojekt „Urban-Climate“ soll die Viernheimer Bürger unterstützen, besser mit den Folgen des Klimawandels umzugehen. Schulen, Vereine und viele Bürger stehen in den Startlöchern. In einem spannenden Interview beleuchtet Herr Michel, Lehrer an der KKS, die Vision und die Herausforderungen des Projekts „Urban Climate“ mit dem verantwortlichen Projektleiter, Herrn Wieland.

Rainer Wieland und Landrat Christian Engelhardt am Tag der Nachhaltigkeit in der Karl Kübel Schule Bensheim.

Michel: Herr Wieland, gestatten Sie mir eine Frage, bevor wir in unseren Dialog einsteigen: Sie sind Lehrkraft an der Karl Kübel Schule in Bensheim. Warum ausgerechnet Viernheim für das Projekt und nicht Bensheim?

Wieland: Viernheim haben ich deshalb gewählt, weil ich selbst Viernheimer bin. Fast meine ganze Verwandtschaft und Freunde leben hier. Mir liegt etwas an Viernheim und ich möchte, wie viele Bürger Viernheims auch, dass es uns in unserer Stadt gut geht, und dass es uns noch lange gut geht. Außerdem kenne ich viele Viernheimer und viele konnte ich von der Idee zum Mitmachen begeistern.

Michel: Gut, nun wissen die Leser, weshalb Sie Viernheim gewählt haben, aber immer noch nicht, warum es nicht Bensheim ist. Soweit ich weiß, ist es doch in erster Linie ein Schulprojekt und Ihr Unterricht findet in Bensheim statt.

Wieland: Als Lehrkraft unterrichte ich in der dualen Ausbildung Wahlpflichtfächer, in berufsbezogenen Projekten und in sog. Lernfeldern, wie beispielsweise bei den Fachinformatikern das Lernfeld „Cyber-physische-Systeme “. Wie das „Cyber“ in der Lernfeldbezeichnung schon zum Ausdruck bringt, wird damit die Nähe zu Computern, Netzwerken, Informatik und dem Internet bekräftigt. Der ursprüngliche Begriff „cybernetics“ beschreibt weitaus mehr Systeme verschiedenster Art. Dazu gehören nicht nur technische, sondern auch z. B. biologische, soziologische oder gesellschaftliche Systeme und darüber hinaus auch physikalische Phänomene, wie sie beim Wetter auftreten. Diese Systeme und Phänomene werden auf ihre selbsttätige Regelungs- und Steuerungsmechanismen hin untersucht. Wetterphänomene treten überall auf dieser Welt auf. Es ist erstmal unerheblich, wo man anfängt diese zu untersuchen. Entscheidend ist, dass man am Ende ein valides Ergebnis hat, was mit denen an anderen Orten verglichen werden kann, um daraus mögliche Ursachen, Abhängigkeiten und (Wechsel-)Wirkungen abzuleiten. Es spielt also keine Rolle, ob wir in Bensheim die Wetterdaten von Viernheim, die Wetterdaten von Weinheim, von Heidelberg oder New York untersuchen. Die Voraussetzung ist aber nun mal die Datenerhebung. Diese muss vor Ort stattfinden.

Michel: So ganz verstanden habe ich Sie jetzt nicht. Damit Sie Ihre Cyber-Untersuchungen machen können, brauchen Sie Wetterdaten, soweit kann ich folgen. Sie sind aber der Meinung, dass die Wetterdaten und -Vorhersagen, wie Sie jeder auf seinem Handy abrufen kann, nicht ausreichend genau sein sollen?

Wieland: Ja und Nein. Die Wetter-Prognosen basieren auf   satellitengestützten Meteodaten und aus Daten von Wetterballons. Die anschließenden Modellberechnungen stimmen oder stimmen nicht. An manchen Orten eben fast immer und an manchen eher selten. Und mit Orten meine ich keine Städte, sondern Stadtteile, Straßenzüge oder kleinere Wohnregionen in der Stadt. Wenn zum Beispiel eine Regenfront aufzieht und über das vorher stark aufgeheizte Rhein-Neckar-Zentrum zieht, dann kann man sich vorstellen, dass dies je nach Windstärke und Windrichtung einen Einfluss auf das Regenereignis hat. Die Satellitenaufzeichnungen sind u.a.  für landwirtschaftliche Wirtschaftsflächen erstellt worden, damit der Landwirt informiert ist und entscheiden konnte. Das Raster   ist mit einem Quadratkilometer ausreichend. Es hilft uns aber heute nicht wirklich, wenn wir Schatten in einer Betonwüste suchen, um es mal provokant auszudrücken.

Michel: Wenn Ihnen das Raster von einem Quadratkilometer nicht reicht, wie eng wollen Sie denn das Raster setzen?

Wieland: Je dichter, desto besser. Was die Luftdaten, wie Temperatur, Luftdruck, Luftfeuchte, Windstärke und Windrichtung betreffen, so sind für Viernheim 50 Wetterstationen vorgesehen. Um ihre nächste Frage vorweg zu nehmen, -die Anzahl erscheint Ihnen vielleicht etwas übertrieben, aber im Vergleich zu London, bei der eine ähnliche und erfolgreiche Untersuchung durchgeführt wurde, waren es 1300 Wetterstationen. Legt man nun die Flächen zugrunde, so kommt man auf 1,2 Wetterstationen pro Quadratkilometer und damit bei Viernheim mit seinen ungefähren 48 Quadratkilometer in die Größenordnung von 50.

Michel: Widersprechen Sie sich nicht gerade? In Ihrer vorangegangenen Antwort hatten Sie betont, dass das Kilometerraster nicht ausreicht und jetzt wollen Sie unseren Lesern erklären, dass nicht mehr als 50 Wetterstationen notwendig sind.

Wieland: Darin liegt kein Widerspruch, denn diese 50 Wetterstationen sind ja erst der Anfang. Im Projektplan, den ich Ihnen vor unserem Gespräch gegeben hatte, finden Sie eine Budgetierung, die für den 3D-Druck einer eigenen Wetterstation vorgesehen ist. Darin enthalten sind die Konstruktions­datenerstellung, die Schulung von Lehrkräften und das notwendige Material, was es für die Schulung braucht.

Michel: Richtig, ich erinnere mich. In Ihren Bewerbungsunterlagen für den Innovationscup der BASF stand, dass bei einer sogenannten Multiplikatoren-Schulung die teilnehmenden Lehrkräfte das Konstruieren einer Wetterstation mithilfe einer CAD-Software erlernen. Dabei entstehen die notwendigen Daten, um eine eigene Wetterstation mit recyceltem PET am 3D-Drucker zu drucken. Mit diesem Wissen können Sie an Ihrer Schule weitere Lehrkräfte fortbilden und die Lehrkräfte in ihrem eigenen Unterricht anwenden. Gibt es in Viernheim so viele Lehrkräfte, welche dies unterrichten und hat denn jede Schule einen geeigneten 3D-Drucker für dieses recycelte PET?

Wieland: Mit einem Ja wäre der erste Teil Ihrer Frage bereits beantwortet. Ich möchte aber dennoch etwas ergänzen. Bei einer Multiplikatoren-Schulung, wie ich Sie kenne und in meiner Dozententätigkeit 3- oder 4-mal im Jahr in einem anderen Kontext an der Hessischen Landesstelle für Technologie und Fortbildung durchführe, werden Lehrkräfte aus ganz Hessen fortgebildet. Fortbildungen zu aktuellen Themen sind immer schnell ausgebucht. In Baden-Württemberg über das Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung oder am Pädagogischen Landesinstitut Rheinland-Pfalz ist es sicher nicht anders. Das Unternehmen aus Mannheim, welches wir für die Konstruktion der Wetterstation und die Erstellung der Schulungsunterlagen gewinnen konnten, ist hier in unserer Metropolregion für seine Lehrerfortbildungen in den 3 Bundesländer bekannt. Herr Stern hat mir seine Unterstützung bereits zugesagt, ebenso würde ein Teil der Schulungskosten durch den Software-Herstellen übernommen, vorausgesetzt, das Preisgeld der BASF fällt ausreichend hoch aus. Was den notwendigen 3D-Drucker betrifft, so werden die Kosten für Schulen aus der Metropolregion Rhein-Neckar durch die Hopp-Foundation fast formlos und vollständig übernommen.

Michel: Nehmen wir mal an, Sie hätten die finanziellen Mittel und würden erst einmal mit den 50 Wetterstation anfangen. Dann müssen diese ja auch in Viernheim aufgestellt werden. Wenn ich es richtig weiß, sprachen Sie im Vorfeld auch von 300 Bodenfeuchtesensoren. Wie sollen die den in oder unter die Erde kommen?

Wieland: Das waren gerade 2 Fragen und ich versuche nun eine nach der anderen zu beantwortet. Für die 50 Wetterstationen werden natürlich sinnvolle Standorte gebraucht. Wir rechnen damit, dass sich viele Bürger an dem Projekt beteiligen. Dazu haben wir den Verbund der „Bürger Initiativ Viernheim“ mit im Boot. Dieser lose Verband organisiert Vortragsveranstaltungen oder Sammelbestellungen, wie zum Beispiel für Balkon-Kraftwerke. Mehr als 400 Bürger/Familien sind bei Bürger Initiativ im Austausch. Weiter hat es ein Gespräch mit dem ersten Stadtrat Jörg Scheidel gegeben.

Michel: Der Freiwilligentag, wie auch der Tag der Nachhaltigkeit sind im September. Ist das nicht schon etwas spät, wenn der Somme doch eher für die heißen Tage bekannt ist?

Wieland: Für die Entwicklung des Bodenfeuchtesensors und der eigenen Wetterstation, die Funkvermessung des Stadtgebietes durch den FACW e.V. aus Weinheim und die Vorbereitung für das Ausrollen braucht es Zeit. Das Projekt ist bewusst auf 2 Jahre ausgelegt. Nach den Sommerferien 2024 ist ein guter Zeitpunkt für den Einstieg mit Schülern und Schülerinnen. Bereits im April/Mai dieses Jahres wird es die ersten Prototypen für die Bodenfeuchtesensoren geben. Diese werden der Kita und den Schulen zum Testen gegeben. Damit lassen sich bereits Aussagen zum Einsatzbereich treffen oder notwendige Entwicklungskorrekturen anstoßen.

Michel: Sie sprechen gerade von Funkverbindung. Wozu braucht es diese und was ist da zu tun?

Wieland: Die Wetterstationen, wie auch die Bodenfeuchtesensoren übertragen Ihre Messdaten kabellos per Funk an sogenannte Gateways. Diese Gateways leiten die Daten dann ins Internet weiter, wo sie bei unseren Internet-Servern landen und dort gespeichert werden, bevor sie ausgewertet und angezeigt werden. Das verwendete Funkübertragungsverfahren hat eine sehr geringe Sendeleistung und kann im Freigelände ohne Hindernisse über eine größere Distanz die Daten übertragen. Die Sendeeigenschaften von Sensoren, die nahe am Boden oder unter der Erde sind, sind zu untersuchen. In Viernheim haben wir derzeit 4 Funk-Gateways, Je nach Funkreichweite werden dann in der Nähe weitere Gateways für den Empfang benötigt und installiert.

Michel: Als wir uns trafen und die Überschrift für diesen Artikel festgelegt haben, hatten Sie größten Wert daraufgelegt, dass wir das „warm werden“ mit aufnehmen. Vielleicht können Sie unseren Lesern noch erklären, warum Ihnen das so wichtig ist.

Wieland: Über die Klimaveränderung wird viel geredet, diskutiert und teilweise auch getan. Aber wie es häufig ist, gibt es Personen oder Gruppierungen, die eine Situation ausnutzen, um sie zu instrumentalisieren. Das polarisiert eher als das es die Menschen zusammenbringt. Das fängt bei Wissenschaftlern an, die an Ihren Ergebnissen festhalten und Ihren Standpunkt verteidigen, geht über Oppositionen in der Politik, die grundsätzlich immer erst einmal Einwände haben, geht weiter über Klimakleber die den zivilen Ungehorsam überschreiten, und, und, und. Das verunsichert die Bürger und stürzt Sie meiner Meinung nach in eine Klima-Depression. Die Klimaveränderung ist da und wir müssen uns dieser Situation stellen. Das bedeutet nicht, dass wir den Kopf in den Sand stecken sollen und resignieren müssen, sondern unsere Möglichkeiten nutzen sollten, um das Beste daraus zu machen. Wegsehen und nichts tun ist keine gute Option, denn mit der Natur und der Umwelt können wir nicht verhandeln. Was wir aber tun können, sind zu versuchen, die Zusammenhänge zu verstehen und unseren Beitrag dazu zu leisten, damit sie besser verstanden werden. „Warm werden“ bedeutet, dass man sich damit ernsthaft beschäftigt und auseinandersetzt. Der gute Nebeneffekt dabei ist die sogenannte extrinsische Selbstwirksamkeitsregulierung. Ich will das mal an einem Beispiel erklären: Wenn jemand viel mit seinem Wagen unterwegs ist und stetig seine Kosten für den Kraftstoff und die gefahrenen Kilometer kontrolliert, wird er unmittelbar weniger oder ergonomischer fahren. Jemand der ein Balkonkraftwerk nutzt und die Daten kontrolliert, wird ausnahmslos weniger Energie verbrauchen. Es gibt noch unzählige Beispiele, wie den Einkaufszettel und den Kassenbon oder die Körpergewichtskontrolle. Auf unser Projekt übertragen bedeutet dies, dass zum Beispiel der Einsatz eines Bodenfeuchtesensors im Vorgarten zu einem sparsameren Wasserverbrauch führt. Wenn jemand eine Wetterstation aufstellt wird er früher oder später seinen Steingarten durch Pflanzen oder Bäume ersetzen. Wenn die Bürgen in Viernheim mit den Klimaveränderungen warm werden, ist das erst der Anfang. Smart City wird dann Realität, wenn die Daten auch für die Bewässerung der öffentlichen Flächen genutzt werden, das aufgebaute Funknetz, dass nicht nur Klimadaten, sondern zum Beispiel auch freie Parkplätze, volle Mülleimer, oder leere Tütenspender für Hunde detektieren kann genutzt wird, um am Ende Ressourcen zu sparen. Wenn wir auf einer digitalen Landkarte in der Innenstadt Plätze gezeigt bekommen, die im Sommer im Schatten liegen, ein paar Grad kühler sind und uns Gelegenheit geben uns auszutauschen und keine überhitzten Debatten geführt werden müssen, dann geht es uns gut und da müssen wir hin. Andere Städte wie Weinheim und Bürstadt haben das bereits verstanden und sind auf das Projekt Urban-Climate aufmerksam geworden. Der Rotary Club Weinheim fördert das Projekt bereits an der Hans-Freudenberg-Schule. Die Bürgermeisterin Frau Schader aus Bürstadt hat das Projekt beim Klimaforum in Bürstadt vorgestellt bekommen und war begeistert; auch da geht es voran. Wir von Urban-Climate hoffen nun, dass wir ein ausreichend hohes Preisgeld erzielen, um unsere ambitionierten Ziele erreichen zu können. Sollte uns das nicht gelingen, werden wir versuchen, über andere Partner die notwendigen finanziellen Mittel zu bekommen.

Michel: In Lampertheim wird ein ähnliches Projekt, welches über das Bundesförderprogramm „Anpassung urbaner Räume an den Klimawandel“ gefördert wird, umgesetzt. Ist so etwas in Viernheim nicht auch denkbar und macht so eine Strategie Ihr Projekt nicht obsolet?

Wieland: Es gibt keine Konkurrenz, wenn es um Maßnahmen geht, die helfen, besser mit den Klimaveränderungen umzugehen. Lampertheim tut sicher Gutes, zumal solche Projekte mit 90% der Kosten gefördert werden. Fördergelder vom Bund oder dem Land sind als Initialzündung wichtig. Mir gehen solche Maßnahmen jedoch nicht weit genug. Wo wird hier beispielsweise MINT an den Schulen gefördert? Wo ist hier die Bürgerbeteiligung oder die extrinsische Selbstwirksamkeitsregulierung? Was ist mit der Nachhaltigkeit? Smart City wird häufig als Schlagwort verwendet. Tatsächlich entstehen häufig Insellösungen die nur unter viel Aufwand und Kosten am Ende zusammengeführt werden können. Aber und da müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen, können wir es nur besser machen, wenn wir es besser wissen. Oft sind wir in unserem Tun von unseren Scheuklappen so sehr auf einer Schiene, dass wir andere Lösungsansätze schlicht und ergreifend nicht sehen. Junge Menschen, ich weiß von was ich rede, die im Kindergarten sind, gerade die Schule besuchen oder im Studium stecken, sind häufig offener, kreativer und freier von Restriktionen. Davon können wir alle profitieren, wenn wir es zulassen, sie ernst nehmen, ihnen unser Vertrauen geben und bereit sind Verantwortung abzugeben. Gleichwohl sind die Älteren unter uns wichtig, die Ihre Erfahrungen und Expertise gerne und bereitwillig im Ehrenamt einbringen. Wenn man junge Menschen mit Ideen, ältere mit Erfahrung, finanzielle Mittel und die Unterstützung der Gemeinde zusammen bringt, hat man die besten Zutaten für den Cocktail um „Gemeinsam Neues Schaffen“, so lautet übrigens auch der Projektwettbewerb der BASF.

Michel: Herr Wieland, es war sehr spannend mit Ihnen dieses Interview zu führen. Ich hätte noch viele Fragen, auf die Sie sicher eine Antwort haben. Wie können unsere Leser mehr über Urban-Climate erfahren und wie erreicht man Sie?

Wieland: Urban-Climate ist gerade im Entstehen. Unter https://www.urban-climate.de werden wir das Projekt weiter pflegen. Wo wir momentan stehen, kann man unter https://www.urban-weather-project.de nachlesen. Dort gibt es auch eine interaktive Landkarte zu unseren bisherigen Wetterstationen und dem Funksystem in der Metropolregion.